Meine Lieblingszeit im Jahr ist da: Der Herbst.
Wahrscheinlich ist diese Präferenz ein Überbleibsel aus früheren Jahren, denn sicher findet jedes Kind die Jahreszeit am schönsten, in der es Geburtstag hat.
Aber wisst ihr was? Ich stecke fest. Seit August sind mein Körper und mein Kopf im Spätsommer stecken geblieben. Keine Bunten Blätter. Kein Herbsgefühl. Tagsüber scheint die Sonne, es ist noch immer zwölf Stunden am Tag hell. Wenn wir zum Strand gehen ist kurze Hose angesagt (wenn ich auch nicht unbedingt den Sprung ins Meer wage) und die Sehnsucht nach dicken Socken und warmem Tee hält sich in Grenzen.
Das Verrückte daran ist, dass ihr jetzt vielleicht denkt, ‘ohhh wie schön die es auf der Insel haben’. Ich dagegen ertappe mich in letzter Zeit oft bei dem Gedanken, dass ich mir einen typischen deutschen Regentag im Herbst herbeisehne. Nicht, weil ich unzufrieden mit dem Wetter hier bin, sondern weil mir diese routinierte Ablauf der Jahreszeiten fehlt.
Der Frühling mit seinen ersten Sonnenstrahlen und zurückkehrenden Vögeln, die die nahende Sommerzeit ankündigen, die weichen Blätter an den Bäumen… Der Sommer, der uns einen triftigen Grund gibt, jeden Tag ein Eis zu essen und die Kalorien bei langen Läufen durch den sommerlichen Wald wieder loszuwerden, der Sprung in den kalten Baggersee… Der Herbst, der alle Blätter bunt werden lässt und die Wollsocken an den Füßen sich so kuschlig weich anfühlen und der Geruch von frisch gebrühtem Chaitee durch das Zimmer strömt… Der Winter, der die Vorfreude auf das alljährliche Plätzchenbacken mit Oma bringt, im Haus meiner Eltern knistert der Kamin vor sich hin, die Wohnung duftet nach Kerzen und Nadelgrün, der Geruch von Schnee, wenn er dann zum ersten Mal fällt und die Freude über jede einzelne Schneeflocke, die nicht schmilzt, bevor sie den Boden berührt. Ich bin ein Fan vom Wechsel der Jahreszeiten, das wird nie langweilig und bringt die nötige Abwechslung…
Spätestens mit meinem Vermissen von Regentagen ist es nun offiziell: Der Kulturschock ist da. Über die letzten Wochen haben Tobi und ich einige Symptome dieses Phänomens in unserem Leben entdeckt und dieser Blogeintrag ist eine Widmung an jene Dinge, die wir zur Zeit am Meisten vermissen.
1. Der Wald.
Wir leben hier im Großstadt-Dschungel. Und bis vor einigen Wochen hätte ich mich eher als Stadtkind anstelle eines Dorfmenschen bezeichnet. Aber inzwischen bin ich soweit, dass ich nichts so sehr vermisse wie den Tübinger Wald hinter unserem Haus. Die Möglichkeit, innerhalb von fünf Minuten unter grünen Blättern zu stehen. Keine Autogeräusche zu hören. Mit etwas Glück ein Reh über den Weg huschen zu sehen. Die frische und feuchte Luft des Waldes einzuatmen. Den kleinen Bachlauf plätschern zu hören. Neue Wege zu entdecken, vorbei an Brombeersträuchern und Hagebutten. Das fehlt uns hier sehr.
Mein Hintergrundbild am Computer habe ich inzwischen geändert. Statt einer hippen Abbildung von Gran Canaria zeigt es nun den Märzwald an unserem Hochzeitstag in Tübingen. Der noch nicht ganz farbenfroh, aber umso verwunschener um einen kleinen Bachlauf steht. Das Sonnenlicht fällt warm durch die Äste und ich kann in meinem Inneren die Geräusche des Waldes hören.
Natürlich gibt es auch hier auf Gran Canaria wunderschöne flecken Natur. Sie sind nur etwas schwieriger zu erreichen. Statt mit einem fünf-minütigen Spaziergang, fahren wir mindestens zwanzig Minuten, bis wir an Orte kommen, an denen wir keine Motorgeräusche mehr hören und das Gefühl von Natur sich einstellen kann. Deswegen ist unsere selbstgewählte Medikation: Einmal die Woche ab in die Natur. Und in den letzten Wochen haben wir haben schon ganz wundervolle Orte entdeckt:
Das Barranco de Moya, eine canyonartige Schlucht, an der es zu beiden Seiten wunderschöne Kletterfelsen und zur Zeit tausende von Schmetterlingen aus Afrika gibt.
Der Fichtenwald um den Roque Nublo. Auf der Heimfahrt haben wir sogar Kastanienbäume entdeckt und konnten uns abends an selbstgerösteten Maronen die Finger verbrennen.
Gleich hier um's Eck: der Botanische Garten, in dem es Wiesen mit grünem Gras und einen miniatur Pinienwald gibt.
2. Backe Backe Kuchen.
Ob Urlaub oder Auslandsstudium, schon nach wenigen Wochen Auslandsaufenthalt sind es meist die deutschen Brezeln, die in mir die größte Freude auf die Heimat wecken. Dank Globalisierung haben wir jedoch hier die Möglichkeit im Lidl (relativ frische) Brezeln aus einem Backautomat zu kaufen. Nein, in Deutschland würde ich sie ob ihrer mangelhaften Qualität nicht kaufen, aber hier sind sie eine schmackhafte Erinnerung an das, was ich an Deutschland so liebe.
Was mir insbesondere fehlt ist das Kuchen-Backen. Habe ich vor wenigen Monaten noch zweimal die Woche in der Backstube gestanden und kiloweise Mehl und Zucker verarbeitet, so beinhaltet meine jetzige Küche nicht einmal einen Ofen. Ich leide folglich unter Backentzug.
Deshalb ist freitags bei Cambio jetzt Backtag. Ich nehme mir die Freiheit, mich für einige Stunden in die Küche zu stellen und meine Lieblingsrezepte zu backen, während alle anderen im Unterricht sitzen. Ganz alleine in einer Küche mit zwei Backöfen, mit guter Musik und mit klebrigen Fingern fühle ich mich in meinem Element. Wenn anschließend noch der Bauch ein bisschen von zu viel rohem Teig wehtut, dann ist das ein Indiz dafür, dass ich einen wunderbaren Vormittag mit Rührschüssel und Quirl hatte. Auch die Teilnehmer sind dankbare Esser und äußern inzwischen schon Wünsche. Der Kuchen wird nachmittags in unserer wöchentlichen Teamsitzung zu Nervennahrung und verleiht so mancher langen Besprechung zumindest für die ersten Minuten den Anschein eines typisch deutschen Kaffeeklatschs.
Käsekuchen nach Oma Lena's Rezept.
Meine erste Challa (jüdisches Shabbat Brot) für unser Abendmahl bei Cambio.
Und natürlich jede Menge Zimtschnecken.
3. Familie und Freunde.
Es ist nicht einfach für uns, tausende Kilometer entfernt von Familie und unseren Freunden auf einer kleinen Insel im Atlantik zu leben. Dank Technologie und geringer Zeitverschiebung haben wir zwar immer die Möglichkeit, mit ihnen zu reden und sogar mit ihnen am Tisch zu sitzen und einen transatlantischen Kaffe zu trinken. Aber halt immer durch einen Bildschirm getrennt… Das ist eben nicht das Selbe wie live und in Farbe.
Geburtstag haben ohne Familienfeier kann funktionieren, muss aber nicht. Der Herbst ist ein akutes Ballungsgebiet an wichtigen Geburtstagen: Zusammen mit Mama, einen Tag vor meiner Oma und umrundet von der besten Freundin und zwei Cousinen ist der Oktober ein wahrer Festmonat für mich. In meinem bisherigen Leben habe ich erst einen Geburtstag gefeiert, an dem ich meine 25 Jahre ältere Geburtstags-Partnerin nicht gesehen habe. Dieses Jahr also zum zweiten Mal. So war ich sehr gespannt auf diesen Tag im Oktober.
Mit liebevoller Geburtsagspost aus Deutschland, einem köstlichen Geburstagskuchen und vielen kräftig gesungenen Geburtstagsständchen macht jeder Geburtstag Freude. Ich durfte besonders an diesem Tag Erfahren, dass meine Freunde hier eine Art Familie für mich sind. Die Gemeinschaft von Cambio ersetzt in solchen Momenten das, was wir sonst an den Wochenenden bei unseren Familien hatten: Unterschiedlichste Charaktere, die sich bei trubeligen Mahlzeiten um einen Tisch setzen, gemeinsamen Erlebnisse in der Natur und im Alltag, die uns zusammenschweißen und unsere Beziehungen und Gespräche von Woche zu Woche an Tiefe gewinnen lassen. Und Vertrautheit, sich nicht verstellen zu müssen, sondern die Person zu sein, die man eben ist.
Mein schön-schiefes Überraschungsständchen mit 28 Kerzen und köstlichem Kürbiskuchen.
Es ist offensichtlich: Wir versuchen unser Leben hier auf der Insel Stück für Stück aufzubauen. Wir versuchen, das Leben und die Leute hier kennenzulernen. Wir versuchen, die schönen Andersartigkeiten des Landes zu bewundern und über die schlechteren mit viel Humor hinwegzusehen. Wir versuchen, mit der Sprache auch die Spontanität der Spanier zu lernen und die Tage zu nehmen, wie sie eben kommen.
Uns geht es hier wirklich gut. Der Job erfüllt uns, die Menschen sind wundervoll und wir sind gespannt, wie Gott uns in diesem Land gebrauchen wird. Noch ist es nicht an der Zeit, irgendwelche Entscheidungen übers Hier-Bleiben oder Heim-Gehen zu treffen, denn wir sind noch absolut in der Eingewöhnungsphase.
Dabei helfen uns unsere kleinen Strategien, unser deutsches Leben an manchen Punkten beizubehalten. Unsere Liebe zur Natur, meine Vorliebe für frisches (Laugen-)Gebäck und unsere enge Verbundenheit mit Freunden und Familie in der Heimat. Diese Dinge sind für uns ein riesiger Schatz in unserem Leben.
P.S.: Die Reihenfolge der obigen Nennung ist vollkommen wertfrei. Auch wenn es euch komisch vorkommt, dass der Wald vor unseren Freunden genannt wird, fühlt euch nicht weniger vermisst als eine gute alte Eiche.
Ulli
Ich sage nur “Beautiful imperfection” – und freue mich über eure Art gnädig mit euren Unzulänglichkeiten umzugehen. So manches erinnert mich an unsere Anfänge in FFO: Tage, an denen wir uns gefragt haben, was wir hier eigentlich machen, schlaflose Nächte, viele Fragezeichen … aber dann auch immer wieder viele Wunder und Menschen, die uns begeistern und mit anpacken. Ich glaube mein Geburtstag war die erste große Krise – Volker hat ihn nämlich vergessen und ich hatte großes Heimweh nach der “Lörz-Meute”. Tja, manches wiederholt sich wohl bei dir (Lene). Aber es kann nur besser werden …
Ich hänge gerade erkältet auf dem Sofa herum und würde jetzt auch viel lieber eine Runde an der frischen Luft laufen. Aber ich bin ja vernünftig! Denn morgen ist das gesamte Biokisten-Käse-Team bei uns in der Bude. Da sollte ich wieder auf dem Dampfer sein.
Wenn ich aus dem Fenster schaue sehe ich ein Stück blauen Himmel – vielleicht ja doch eine Chance heute an die frische Luft zu kommen.
Ihr zwei, macht es gut. Ich freue mich dann schon auf eure Dezember-News. Ulli